Etwa 500.000 anspruchsberechtigte Vollzeitbeschäftigte in Deutschland lassen ihren geringen Verdienst nicht mit ergänzendem Arbeitslosengeld (ALG II) "aufstocken". Damit übersteigt die Zahl der Vollzeitbeschäftigten ohne ergänzende Sozialleistungen deutlich die Zahl der vollzeitbeschäftigten "Aufstocker" (rund 400.000). Zählt man auch Beschäftigte mit geringerer Stundenzahl hinzu, dürfte die Zahl der Beschäftigten, die ihren Anspruch nicht geltend machen, noch weitaus höher sein. Das zeigen Zwischenergebnisse aus einem von der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung geförderten Forschungsprojekt der Frankfurter Wirtschaftswissenschaftlerin Dr. Irene Becker.
Armutsrisiko durch Hartz IV nicht gesunken
Die Forscherin stützte sich für ihre Berechnung auf Daten des Sozio-ökonomischen Panels (SOEP). Aus ihnen ergibt sich, dass in den letzten Jahren auf 100 Vollzeitbeschäftigte, die ihren Anspruch auf ergänzende Grundsicherung geltend machten, etwa 120 Menschen mit Vollzeitjob kamen, die das nicht taten. Die Hartz-IV-Reform konnte die Dunkelzifferquote der Armut nicht senken, fasst Becker auf Basis älterer Untersuchungen zusammen, die sie zusammen mit Prof. Dr. Richard Hauser für die damalige rot-grüne Regierung erstellte.
Angst vor Stigmatisierung
Nach Ansicht der Forscherin gebe es drei zentrale Gründe, dass die Betroffenenen auf ihnen zustehende Sozialleistungen verzichten: Mangelnde Information darüber, was ihnen zusteht. Zweitens spiele die Scham, durch Hartz IV stigmatisiert zu werden, eine große Rolle. Und etliche schrecke zudem das komplizierte Antragsverfahren ab.
Dass die betroffenen Menschen trotz ihres niedrigen Erwerbseinkommens und ohne staatliche Ergänzung einer Vollzeittätigkeit nachgehen, stehe in "auffallendem Kontrast" zu Thesen über negative Arbeitsanreize der staatlichen Grundsicherungszahlungen, so Irene Becker. Das Bedürfnis nach Eigenständigkeit, Anerkennung und einer längerfristigen Lebensperspektive scheine vielen wichtiger als wirtschaftlich besser gestellt zu sein, schlussfolgert sie.
Wissenschaftler fordern gesetzlichen Mindestlohn
Der Leiter des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) in der Hans-Böckler-Stiftung, Dr. Claus Schäfer, sieht es angesichts des wachsenden Niedriglohnsektors als problematisch, die Hinzuverdienstgrenzen beim Arbeitslosengeld II anzuheben. Das würde die Anreize für Arbeitgeber steigern, die Löhne noch weiter zu senken.
Hartz IV funktioniere in Kombination mit Niedriglöhnen schon jetzt wie "ein verstecktes Kombilohn-Programm" zugunsten der Arbeitgeber, erklärt er. Als bessere Alternative nennt er einen gesetzlichen allgemeinen Mindestlohn. Dieser "würde die Subventionierung nicht Existenz sichernder Löhne erheblich eindämmen." Auch eine zusätzliche Erhöhung des Hartz IV-Regelsatzes sei nötig, um den besonderen Bedarf für Kinder zu decken.
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